Nachgefragt

Von Noten und dem wahren Leben
Von David Merz und Dorothée Schenk [08.07.2016, 16.40 Uhr]

"… und wieder einmal war es Zeugnistag", sang dereinst Reinhard Mey und schilderte in bunten Farben, wie er als Schuljunge unter dem Notendebakel litt. Heute wird es einigen Schülerinnen und Schülern im Jülicher Land ähnlich ergehen. Grund genug, einmal heutige "Amts- und Würdenträger" zu fragen, wie es ihnen so ergangen ist. Kleine Mutmacher für Zeugnisempfänger und deren Erziehungsberechtigte, die vielleicht "nicht ganz ausreichende" Noten nach Hause bringen.

Auch für Sarah Böhnke, heute Leiterin des städtischen Jugendheims, war Schule "ein nicht immer einfaches Thema". Die Grundschule und das erste Jahr auf dem Gymnasium verliefen ruhig. "Dann kam oft die Unlust und auch ein gesteigertes Interesse an außerschulischen Aktivitäten dazwischen." Auch nachdem sie die 7. Klasse wiederholt hatte, habe sich zunächst wenig geändert. Jugendtreff, Ferienspiele und mit der Zeit auch die Jungs aus der Oberstufe waren für sie interessanter als Unterricht. Dazu kam, dass die heutige Sozialarbeiterin ihre Lehrer "null ernst" nahm. Nach der 10. Klasse musste sie das Gymnasium verlassen. Auf der Fachoberschule für Soziales und Gesundheit war ihr Ehrgeiz geweckt. 1,0 Schnitt, Jahrgangsbeste, Studienplatz. "Letztlich ist der Satz, den meine Mutter mir immer wieder um die Ohren schmiss, wahr! Man lernt nicht für wen anders, sondern ausschließlich für sich selbst und seine Ziele."

Anders verlief die Schullaufbahn bei Dr. Edith Körver: „ich war vom 1. Schuljahr bis zum Abitur am GZJ [Anm. d. Red. Gymnasium Zitadelle Jülich] eine kleine Streberin und hatte betonierte Einser in allen Fächern auf meinem Zeugnis.“ Nur in Sport stand bei der heutigen Schulleiterin der Zitadelle „eine ebenso betonierte Drei“ am Ende des Jahres. Bei den Bundesjugendspielen reichte es gerade zur Siegerurkunde und das trotz Judo und Volleyball, „aber Schulsport war nicht so mein Ding.“ Heute ist für sie aber wichtig, die Leistung von Schülern nicht nur auf ihre Note zu reduzieren. Es komme auf eine „runde Persönlichkeit“ an.

Propst Josef Wolff war auf „einer Jungs-dominierten Schule“. Dass er sich keine Chancen bei Mädels ausrechnete, hatte „meinem Interesse an Schulfächern und Politik – ja, Politik!, auch in Form der SV – und auch meinen Zeugnissen immer sehr gut getan.“ Das für ihn „schlimmste Zeugnis“ bekam er von seiner Heimatgemeinde ausgestellt. Auf die erste von ihm gehaltene Messe als frisch geweihter Priester in seiner Gemeinde habe er sich besonders gut auf seine Predigt vorbereitet und diese auch für gut befunden. Der Gottesdienst wurde auf Video aufgezeichnet, um ihn beim Senioren-Nachmittag denjenigen, die nicht kommen konnten, zu zeigen. „Die ganze Messe wurde gezeigt, nur zu Beginn der Predigt wurde der Film vorgespult bis zum Ende der Predigt…“ Für ihn ein Ansporn, seine Predigten möglichst „ansprechend“ zu gestalten – oder sich zumindest kurz zu fassen.

„Eins ist gewiss: In meiner Schulzeit war ich keine Streberin. Ich kenne mehrere weiterführende Schulen in Jülich als Schülerin“, leitet Angelika Lafos ihre Geschichte ein. Dass sie dadurch auch ein Netzwerk aufbauen konnte, ist für sie heute ein Vorteil. Blaue Briefe gab es immer wieder, was für sie bedeutete, „bis zu der Zeugniskonferenz durchzustarten“. Lesen, die Beschäftigung mit der elf Jahre jüngeren Schwester, gemütliche Nachmittagsstunden mit der Familie: „Wo blieb da die Zeit zum Lernen?“ Über die mitgebrachten Fünfen schüttelten ihre Eltern ungläubig mit dem Kopf: „Sie blieben jedoch hartnäckig der Ansicht, dass ich intelligent sei und meinen Weg schon machen würde. ,Intelligenter Faulenzer` eben!“

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„In meinem Werdegang“, so formuliert es der erste technische Beigeordnete Martin Schulz mit einem hörbaren Schmunzeln, „gab es viele Aufs und Abs“. Das sei einerseits der privaten Situation geschuldet, andererseits durchaus auch lehrerabhängig gewesen. Wenig nachvollziehbar ist ihm bis heute, wie er in Physik und Mathe bei einem Lehrer „gut“, bei dem anderen „mangelhaft“ sein konnte. „Ich habe eine Hochbegabtenstipendium gehabt und bin auch mal sitzengeblieben“, gibt er ehrlich zu. Irgendwann sei die Schule aber ganz weit weg. Er habe sich für das Architekturstudium entschieden, und in die Berufsentscheidung „setzt man seine ganze Energie hinein und dann ist man wirklich gut.“

"Ich habe die Last eines ganzen Lebens gefühlt", so beschreibt es René Blanche, wenn er an seine Mathearbeiten am Gymnasium Haus Overbach denkt. Trotzdem blickt er dem "Feind" ins Gesicht und wählte - da Mathematik in seinem Abiturjahrgang nicht mehr abwählbar war - das gehasste Fach als mündliches Abifach. Mit der Mathenote von "4+" hatte er die Hochschulreife in der Tasche und zieht als heutiger Leiter der Aachener Schauspielschule und des Overbacher Burgtheaters das Fazit: "Es geht auch ohne Mathe." Inzwischen vergibt er selbst Zeugnisse, die seinen Absolventen die "Bühnenreife" bestätigen.

Kein Jahr ohne Nachprüfung: Das ist der schulische "Lebenslauf" von Dr. Klement Reinartz. Vor allem mit viel Nachhilfe ist der Jülicher Zahnarzt durch die Schule gekommen. Der Wille sei immer da gewesen, es zu schaffen, auch wenn "ich nie eingesehen habe, wofür ich lernen sollte". Seinen Eltern sei immer wichtig gewesen, dass er ein Ziel habe. Wohin die berufliche Reise gehen sollte, hat er erst sehr spät erkannt. Das "größte Glück meines Lebens" nennt Reinartz, dass er kurz vor Schulende doch noch zur Entscheidung fand: Mikrofeinarbeit und Kontakt zu den Menschen sollte es sein. Der Berufswunsch "Zahnarzt" war geboren. "Da war es für gute Noten im Abitur aber schon zu spät." Dafür startete der schlechte Schüler "mit viel Spaß" im Studium durch, für das er notenbedingt den Umweg über das Ausland gehen musste. Seine Erkenntnis: Wenn man weiß, was man möchte, öffnet sich im Leben "ein großes Eingangstor", und durch das sollte man gehen, unabhängig vom sozialen Status, den der Beruf haben kann, und was man verdient. "Alles andere kann nur schiefgehen." Eine Lebenshaltung, die er auch seinen Kindern weitergibt, von denen drei heute ein Zeugnis erhalten haben.

Dass Irrungen im schulischen Leben nicht das „Ende“ sein müssen, zeigt auch „Hacky“ Hackhausen. Dass das Wirtschaftsgymnasium die „falsche Wahl“ war, erkannte der damalige Schüler bald und meldete sich vor dem Erhalt eines desolaten Zeugnisses ohne Wissen seiner Eltern von der Schule ab. Er verließ allerdings pünktlich zum Unterrichtsbeginn das Haus und bildete sich im Proberaum seiner Band als Autodidakt in Grafikdesign und Programmiersprache per Buch fort. Das erste Ergebnis: „Ich entwarf mir mein eigenes Zeugnis, das besser aussah als ein Original.“ Fatal nur, dass die Eltern das Abgangszeugnis per Post erhielten. „Das war aber der Grundstein für meinen weiteren Werdegang.“ „Hacky“ legte das Fachabitur mit Schwerpunkt Gestaltung mit „1“ ab und absolvierte mit eben dieser Note die Ausbildung als grafiktechnischer Assistent für Medien und Kommunikation (GTA) und Kommunikationsdesign als Studium an der FH Aachen. Dafür gab es eine Ehrenplakette der FH Aachen. Inzwischen ist der mehrfach Ausgezeichnete selbstständiger Kommunikations- und Mediendesigner mit eigener Agentur in Jülich „Nicht im Proberaum. Und ich habe es auch meinen Eltern gesagt“, erzählt er grinsend.

Ehe Bürgermeister Axel Fuchs seine „Ehrenrunde“ durchs Rathaus drehen konnte, absolvierte er eine „bewegte Schulzeit“ und einen „steinigen und langen Ausbildungsweg“. In Klasse 10 gab es für den leidenschaftlichen Fußballer eine Vertragsverlängerung – dafür aber auf dem folgenden Halbjahreszeugnis gute Noten. „Nur in Kunst hatte ich eine 5“, verrät Fuchs und amüsiert sich heute noch. Schule hatte kein Priorität. „Mein Ziel war nicht das Abitur. Ich wollte weltberühmter Rockmusiker werden“, erzählt der Frontmann einer der ersten und bekanntesten Ska-Bands Deutschlands, The Blue Beat. Schnell traf ihn die Erkenntnis, dass dieser Traum trotz Deutschland- und Europatournee wohl nicht Realität werden würde. „Ich habe bei der Abschlussfeier in der Hauptschule gesagt: Man muss ein klares Ziel definieren, und das darf nicht abgedreht sein.“ Mit Abitur, das weiß Axel Fuchs heute, hätte sein Berufsweg gradliniger verlaufen können. Dennoch vermisst er nicht die vielen Erfahrungen, die er machen konnte, und gibt allen Zeugnisempfängern mit: „Auch wenn man den Abschluss nicht direkt schafft, kann man immer noch Akademiker und sogar Bürgermeister werden – wie man an mir sieht.“


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