Das Zwangsarbeiterlager Jülich-Süd - ein Denkmal offener Fragen

„Liebe Mutter ich werde zurückkehren“
Von Marcell Perse, Museumsleiter [18.03.2005, 19.09 Uhr]

Das Zwangsarbeiterlager Jülich-Süd.

Das Zwangsarbeiterlager Jülich-Süd.

Drei Kilometer südöstlich des Stadtzentrums von Jülich liegt am Rande des Hambacher Forstes mit dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Jülich-Süd eine Anlage, die einen kriegswichtigen Betrieb während des Zweiten Weltkrieges darstellte. Heute nutzen das Systeminstandsetzungswerk der Bundeswehr und das Forschungszentrum das Gelände. Gegenüber dem Werkstor entstand 1942 das Zwangsarbeiterlager Iktebach mit fünf RAD-Baracken auf einer Fläche von 1 ha. Direkt an dieses Lager I schloss sich ein Areal mit „Baracken für die Luftwaffe“ an, da im RAW z.B. Tankuhren für Flugzeuge gefertigt wurden. Wiederum neben der Straße, östlich anschließend, wurden bis 1943 die Lager II und III mit weiteren Unterkünften für Zwangsarbeiter errichtet, so dass sich der Komplex mit der Adresse Waldstraße 4 auf über einem halben Kilometer Länge gegenüber der Betriebsanlage zwischen Straße und Wald erstreckte.

Die von Werkschutzleuten bewachten und mit Stacheldraht umzäunten Lager beherbergten zeitweise über tausend Menschen, überwiegend sogenannte Ostarbeiter aus der Sowjetunion, Letten und Polen. Aber auch Franzosen, Belgier, Niederländer und Italiener sind belegt. Teilweise wohnten im Lager ganze Familien. Zum Teil wurden Kriegsgefangene aus dem Stalag Düren-Arnoldsweiler in die Lager überstellt. Die Reichsbahn begann aufgrund der vorrückenden Front im September 1944 mit der Räumung des Werkes, am 2. Oktober wurde die Stillegung und Ausschlachtung verfügt. Noch am 29. September erfolgte aber ein schwerer alliierter Luftangriff auf die Anlage, der auch das daneben liegenden Lager I traf. Zu dieser Zeit sollen sich außer den in den Eisenbahnwerkstätten Beschäftigten auch ein größerer Trupp bei Schanzarbeiten eingesetzter Zwangsarbeiter im Lager befunden haben. Der Angriff erfolgte zur Zeit der Essensausgabe und forderte eine bis heute unklare Anzahl von Toten.

Die Untersuchungen zum Lager Jülich-Süd können auf Meldeunterlagen, Bauanträgen für die Lagererweiterung und Behördenkorrespondenz über den Arbeitseinsatz der ausländischen Arbeitskräfte zurückgreifen, die Stadtarchivar Dr. Horst Dinstühler 2003 publiziert hat. Trotzdem gleicht unser Kenntnisstand über die konkreten Zustände in dem Lager der Situation bei der Erforschung älterer Epochen, die üblicherweise Gegenstand archäologischer Arbeit sind: schriftliche Quellen sind zwar vorhanden, lassen aber viele Fragen offen. Archäologisch Befunde lassen Aussagen über Belegungsdichte, Unterbringungsbedingungen, allgemeine Versorgung und die etablierten Wach- und Sicherheitssysteme erwarten. Damit erfüllt der Lagerbereich die Kriterien eines Bodendenkmals.

Das Museum Zitadelle und die untere Denkmalbehörde Jülich haben daher die Unterschutzstellung nach dem Denkmalschutzgesetz eingeleitet. In Zusammenarbeit mit der Außenstelle Nideggen-Wollersheim des RAB führt Ralf Hertel für den archäologischen Dienst des Museums seit August 2004 Untersuchungen und Begehungen zur Sachverhaltsklärung im Lagerareal durch. Projektleiter Andreas Kupka kartiert die Begehungsergebnisse, Fundament- und Mauerreste und Oberflächenfunde im Abgleich mit dem aus den Bauunterlagen rekonstruierten Lagergrundriss und stellt daraus die Informationen für die Denkmalbehörde zusammen.

Die Aktivitäten wurden bewusst im zeitlichen Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Zerstörung Jülichs durch den alliierten Luftangriff vom 16.11.1944 begonnen, um ein Zeichen zu setzen, dass sich die Stadt nicht allein als Opfer begreift, sondern den gesamten Kontext des Zweiten Weltkrieges in den Blick nimmt.

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Ein Fundstück: Ein Zigarettenetui.

Ein Fundstück: Ein Zigarettenetui.

Das Thema verweist bereits auf die diesjährige Ausstellung „Krieg und Frieden“, die zum Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai im Rahmen des internationalen Museumstages im Museum Zitadelle eröffnet wird.

Das bei den Begehungen und Sondagen geborgene Kleinfundspektrum gibt bei näherem Hinsehen einen guten Eindruck von den Realitäten des Lagers. Essschüsseln und Emailbecher, z.T. mit kyrillischen Schriftzeichen oder Herstellermarke, zusammengewürfeltes Besteck und einfachstes Kochgeschirr lassen den Lageralltag erahnen. Manchmal kommen wir über Objekte einzelnen Personen nahe, wie in den Funden von Blechkarten einer „Adrema“ (Firmenname für Adress-Maschinen) aus dem Bereich des Lagers II, mit denen offensichtlich der Personalbestand des RAW verwaltet wurde. Zufällig befand sich auch die Marke eines Andrea Talmon darunter, von dem ein beschrifteter Essgeschirr-Deckel in Lager I in einem Bombentrichter gefunden wurde. Die Titel-Zeile „Liebe Mutter ich werde zurückkehren“ ist die Übersetzung einer Inschrift, die dieser italienischer Zwangsarbeiter und mutmaßliche Kriegsgefangene in das Aluminium eingeritzt hatte. Von einem russischen Lagerinsassen dagegen stammt eine selbst hergestellte Zigarettenschachtel aus Alublech mit den kyrillischen Anfangsbuchstaben MDP und dem Datum 3.I.1944. Nach der Verzierung des Deckels zu urteilen könnte es eventuell ein russischer Flieger gewesen sein. Zwei Schicksale von vielen.

Die namenlosen Toten des Bombenangriffes vom 29. September 1944 wurden in den Bombentrichtern begraben. Während die obertägigen Zeugnisse - wie z.B. der mit kyrillischen Buchstaben in eine Buche geritzte Name Fenja, der anhand der Meldekartei Nr. 31 mit der aus der aus Solotarewka in der Ukraine stammenden Fenja Fauenkowa identifiziert werden konnte - immer mehr verschwinden, soll neben dem 1985 auf Initiative von Pax Christi errichteten orthodoxen Gedenkkreuz das Bodendenkmal als Zeugnis der damaligen Zeit die Erinnerung wach halten und mögliche Antworten auf für uns noch offene Fragen konservieren.

Der Forschungsbeitrag des Museums Zitadelle wurde als Beispiel für die Landesausstellung „Von Anfang an. Archäologie in Nordrhein-Westfalen.“ ausgewählt und ist momentan im RGM Köln ausgestellt. Der zur Ausstellung erschienene Katalog mit Beiträgen von der Urgeschichte bis zur Neuzeit ist auch im Info-Pavillon des Museums Zitadelle zum Ausstellungspreis von 15 Euro erhältlich. Dort ist zudem eine Vitrine mit aussagekräftigen Funden des Projektes zu sehen. Für den Tag des offenen Denkmals am 11. September plant das Museum Informationen und Führungen im ehemaligen Lagerbereich.

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