Neues aus dem Forschungszentrum

Jülich: Menschliches Hirn – erstaunliches "Gewächs"
Von Redaktion [18.01.2017, 15.23 Uhr]

Das menschliche Hirn wächst länger und funktionsspezifischer als gedacht. Das fanden jetzt ein deutsch-amerikanisches Forscherteam aus Jülich, Aachen, Düsseldorf, Jerusalem und Stanford heraus, das dazu die Gehirne von Kindern und Erwachsenen in einem Magnetresonanztomografen und im Mikroskop analysierte.

Wie wirken sich Entwicklungen in der Kindheit auf das Nervengewebe im Gehirn aus? Anders als bisher angenommen, wächst in bestimmten Bereichen des Gehirns das Gewebe bis ins Erwachsenenalter. Das zeigte eine in der Fachzeitschrift Science veröffentlichte Studie. "Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Gewebestruktur und unserer Fähigkeit, Gesichter zu erkennen", erklärt Prof. Katrin Amunts, Direktorin des Jülicher Instituts für Neurowissenschaften und Medizin.

Schon im Mutterleib nimmt das menschliche Gehirn Informationen auf und verarbeitet sie. Kommt ein Baby zur Welt, kann es sehen, hören und auf Berührungen reagieren. Allerdings sind all diese Funktionen noch nicht ausgereift. Bedingt durch Wahrnehmung und Erfahrung nimmt die Zahl der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen in den ersten drei Lebensjahren rasant zu. Mit zwei Jahren entspricht die Menge der Synapsen derjenigen von Erwachsenen; ein Dreijähriger hat mit einer Anzahl von 200 Billionen bereits doppelt so viele. Bis zum Jugendalter wird dann rund die Hälfte davon wieder abgebaut, bis die für Erwachsene typische Menge von 100 Billionen erreicht wird. Man nahm bisher an, dass ein großer Teil der Gehirnentwicklung und plastischen Anpassung an Lebensbedingungen bei Kindern im Abbau der für ihre Lebenswelt nicht relevanten Synapsen besteht, dem sogenannten "Pruning" oder der "Ausdünnung".

Die Wissenschaftler untersuchten über mehrere Monate die funktionelle Organisation und mikroskopische Struktur von Gehirnen von Kindern und jungen Erwachsenen. Die Kinder in der Studie waren zwischen fünf und zwölf Jahre alt, die Erwachsenen zwischen 22 und 28 – ein Alter, in dem bisher die strukturelle und funktionelle Entwicklung des sogenannten Schläfenlappens, einem Teil des Großhirns, als abgeschlossen angesehen wurde. Sie konzentrierten sich dabei auf eine bestimmte Hirnregion, den sogenannten Gyrus fusiformis, der unter anderem wichtige Strukturen für kognitive Leistungen wie Gesichts- und Worterkennung, aber auch für die Erkennung bestimmter räumlicher Aspekte sowie für Symbole (z.B. Buchstaben) enthält.

Alle Versuchsteilnehmer betrachteten eine Reihe von Bildern: Gesichter, Körper, Orte, Objekte und Symbole. Mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie identifizierten die Forscher dabei die Bereiche des Gehirns mit der größten spezifischen Aktivität für diese Stimuli. So lokalisierten sie zwei benachbarte Hirnregionen: Mit der einen erkennt der Mensch Orte, mit der anderen Gesichter.

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Ein Vergleich der Daten zeigte zusätzliches Gewebe bei den Erwachsenen – jedoch nur in einer der beiden Hirnregionen, der für die Gesichtserkennung. Die Forscher vermuten, dass besonders das Wachstum der sogenannten Dendriten – Zellfortsätze der Nervenzellen, welche vorwiegend der Reizaufnahme dienen – für das zusätzliche Gewebe sorgt. "Dendriten sammeln Informationen aus unterschiedlichen Hirnregionen und bringen sie zu den einzelnen Nervenzellen", erklärt Karl Zilles, JARA Senior-Professor am Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin und an der Klinik für Psychiatrie der RWTH Aachen. "Wir denken, dass sich die Dendriten und somit auch Synapsen sowie das Myelin um die dort vorhandenen Axone der Nervenzellen stark in der Region für Gesichtserkennung entwickeln."

Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, ist bei Kindern noch nicht voll ausgeprägt. Sie wird im Laufe des Erwachsenwerdens entwickelt. Auch diese Annahme überprüften die Wissenschaftler. Sie unterzogen die Kinder und Erwachsenen zwei verschiedenen Tests, um festzustellen, wie gut sie Gesichter und Orte wiedererkennen konnten. Für die Gesichtserkennung benutzten sie eine Variante des sogenannten Cambridge Face Memory Tests. Dieser prüft die Fähigkeit, einmal gesehene Gesichter wiederzuerkennen, unter zunehmend schwierigeren Bedingungen – etwa die Paarung mit ähnlichen Gesichtern, anderen Lichtverhältnissen oder überlagerten Bildstörungen. Während die Originalform des Cambridge-Tests mit Gesichtern von erwachsenen Männern arbeitet, wurden hier Bilder von Kindergesichtern verwendet – denn für die jungen Testteilnehmer ist es schwieriger, Gesichter von Erwachsenen auseinanderzuhalten. Für die Ortserkennung wurde ein ähnlicher Test benutzt, in dem Häuser und Korridore wiederzuerkennen waren.

Kinder schnitten bei beiden Tests ähnlich ab. Anders war es bei den Erwachsenen. "Sie konnten sich einmal eingeprägte Gesichter wesentlich besser merken als Orte", erklärt Katrin Amunts. "Das unterstützt die Hypothese, dass Gesichtserkennung eine Fähigkeit ist, die sich noch im Jugendalter weiterentwickelt." Diese Entwicklung hängt eng zusammen mit dem Wachstum von Dendriten, Synapsen und Myelin in der entsprechenden Region im Schläfenlappen. "Im Hirnareal für Gesichtserkennung war das Gewebewachstum nachzuweisen, nicht jedoch im Gebiet für Ortserkennung. Dies stimmt mit den funktionellen Befunden perfekt überein", stellt Karl Zilles fest.

Ähnliche Wachstumsprozesse seien auch in anderen Bereichen zu vermuten, so Amunts – etwa im Sprachzentrum. "Schließlich entwickeln sich die sprachlichen Fähigkeiten über einen relativ großen Zeitraum." Die vorliegende Publikation zeigt somit erstmals ein regional- und funktionsspezifisches Wachstum bestimmter, aber nicht aller Hirnregionen im Zeitraum zwischen Kindes- und Erwachsenenalter.


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