Festrede zur Eröffnung des Sales-Hofes
Von Prof. Dr. Joachim Treusch [31.07.2013, 14.16 Uhr]

Prof. Dr. Joachim Treusch

Prof. Dr. Joachim Treusch

Es ist schön, sozusagen „nach Hause“ zu kommen und so viele alte Freunde und Mitstreiter zu treffen. Ich erinnere mich noch sehr gut, lieber Herr Lingen,

wie wir vor ungefähr zwanzig Jahren zum ersten Mal darüber gesprochen haben, dass und wie Sie dem für seine Musik, seine Chöre und seine Orchester berühmten Gymnasium Haus Overbach auch im Bereich der Naturwissenschaften ein Profil geben wollten, wie wir vor vierzehn Jahren - ich glaube es war 1999 - mit Herrn Dr. Siegers vom Bund Deutscher Arbeitgeber, mit Pater Carduck und mit Prof. Buchkremer in der Bibliothek zusammensaßen und über die Gründung des MINT-EC nachdachten.

Heute blüht MINT-EC - danke Herr Dr. Winter, danke Herr Gollub,

die Zusammenarbeit des Hauses Overbach mit dem Forschungszentrum und den umliegenden Hochschulen funktioniert prächtig - Herr Prof. Buchal und Herr Prof. Grünberg sind lebendiger Ausweis dafür - und der Landrat kann sich gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Provinzial darüber freuen,

heute gibt es - vor vier Jahren eingeweiht - ein Science College im Haus Overbach,
und - ab heute - steht der Franz von Sales Hof bereit für neue Möglichkeiten der Kommunikation und des persönlichen Austauschs.

Eine großartige Erfolgsstory! Ist also das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein gesundes, gar glückliches?

Bevor ich diese Frage zu beantworten versuche, zunächst eine kleine Entschuldigung oder Erklärung zum Titel:

„Wissenschaft und Gesellschaft“ ist ja sprachlogisch so etwas wie „Frauen und Menschen“.

(Das geht übrigens fast nur in der deutschen Sprache so. „Women and Men“ würde z.B. sicher als „Frauen und Männer“ verstanden, obwohl men auch Menschen bedeutet.)

So, wie die Frauen auch Menschen sind, gehören die Wissenschaftler auch zur Gesellschaft, aber wie die Frauen sich von den anderen Menschen unterscheiden, unterscheiden sich Wissenschaftler sehr spezifisch von dem Rest der Gesellschaft. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Methoden, wollen subventioniert werden, selbst wenn sie nicht so genau erklären können, was sie eigentlich treiben, und verweisen gerne auf Michael Faraday, einen den ihren, der seinem König auf die Frage, was er da Komisches mit der sogenannten Elektrizität mache, antwortete: „Sir, Ihr oder Eure Nachfolger werden darauf einst Steuern erheben.“ Da ist es dann schon eine gute Frage, wie viel Geduld so ein Herrscher hat!

Bevor ich auf diese Frage eingehe aber zunächst zu der noch offenen Frage:

Ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein gesundes, gar glückliches?

Nun, im Juli 2013, gut zwei Monate vor der Bundestagswahl, sieht es fast so aus. Man muss nur die Verlautbarungen der großen Wissenschaftsorganisationen und der großen Parteien lesen, die sich im Wahlkampf zu positionieren versuchen.

Die GWK, die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz der für Wissenschaft zuständigen Länderminister und Ministerinnen, verlautbart am 10. Juli 2013, also vorgestern:

„Deutschlands Wissenschaft ist im globalen wissenschaftlichen Wettbewerb gut aufgestellt. Sie trägt durch ihre Aktivitäten wesentlich dazu bei, den High-Tech-Standort Deutschland und seine Wirtschaft im internationalen Wettbewerb sowie die wissenschaftliche und technologische Position zu stärken.“

Hier spricht das Selbstbewusstsein der Geldgeber.

Die großen Wissenschaftsorganisationen DFG, MPG, WGL, HGF, sprich: die Empfänger, nuancieren den gleichen Tatbestand etwas anders:

„Wissenschaft und Forschung sind die Grundlagen für nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung, Beschäftigung und Wohlstand“ so die WGL,

„Als Industrie- und Technologiestandort ist Deutschland von der Leistungsfähigkeit und Kreativität seines Wissenschaftssystems fundamental abhängig.“ so der Wissenschaftsrat.

Aber und hier sei die DFG zitiert: „Leistungshöhe, Leistungsdichte und Konkurrenzfähigkeit von Wissenschaft und Forschung müssen auch in Zukunft gesichert sein.“

Die MPG schreibt: „Der weltweite Wettbewerb zwischen den Wissensökonomien ist schärfer geworden. Das deutsche Wissenschaftssystem muss in diesem globalen Kontext bestehen.“

Die HGF hat ?s noch etwas größer: „Die weltweiten gesellschaftlichen und technologischen Transformationsprozesse stellen die Menschheit vor große Herausforderungen. Der steigende Energiebedarf, die Klimaveränderungen und der demographische Wandel sind nur einige Beispiele für Entwicklungen, zu deren Bewältigung die Gesellschaft Impulse aus der Forschung erwartet.“

Hinter all dem schimmern die Angst vor dem Ende der Exzellenzinitiative und die Frage nach der Finanzierung danach nur zu deutlich durch.

Die Hochschulrektorenkonferenz bekommt auf ihre Frage:
„Wie stellen Sie sich die künftige Kooperation von Bund und Ländern bei der Finanzierung der Hochschulen vor?“

die Antwort: „CDU und CSU wollen, dass der Bund in Zukunft auch exzellente Forschung an Hochschulen institutionell fördern kann. Deshalb setzen wir uns für eine Änderung des Artikels 91b Grundgesetz (Kooperationsverbot)... ein.“

Die SPD antwortet: „Mit dem Kooperationsverbot ist die Politik einen Irrweg gegangen...Wir sprechen uns für einen neuen Grundgesetzartikel 104c aus, in dem dauerhafte Finanzhilfen des Bundes für Bildung und Wissenschaft, für Schulen und Hochschulen ermöglicht werden.“

Klingt gut, aber die kleine Nuancierung der so ähnlichen Zielsetzung führt im Bundestag zur Blockade.

All dies waren Äußerungen der letzte Wochen oder Tage, aber NRW-Landesministerin Svenja Schulze, die ja keinen Wahlkampf vor sich hat, muss wohl schon früher etwas geahnt haben. Als sie die Eckpunkte des NRW-Hochschulzukunftsgesetzes vorstellte, das das Hochschulfreiheitsgesetz der anders gefärbten Vorgängerregierung ersetzen soll, sagt sie auf einer Pressekonferenz am 21. November 2012:

„Angesichts der Höhe der Steuergelder, die das Land seinen Hochschulen jährlich zur Verfügung stellt, müssen wir garantieren können, dass der Verselbständigungsprozess der Hochschulen nicht zu einem Blindflug bei der Mittelverwendung wird. .. Wir müssen wieder garantieren können, dass das Geld da ankommt, wo es hingehört. .. Ich werde diese Verantwortung wahrnehmen.“

In einer Mitteilung ihres Hauses, des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Bildung, wird auch erläutert, wie das geschehen soll, nämlich durch (ich zitiere)

“das geplante neue Steuerungsinstrument der Rahmenvorgaben, . .. die durch das MIWF nichtförmlich gesetzte, generell-abstrakte Regelungen unterhalb der formellen und materiellen Gesetze .. (und) für die Hochschulen bindend sind.“

Aber bevor wir jetzt in mitleidenden Schrecken fallen, kommt historische Tröstung nach dem Motto „Alles schon mal dagewesen!“.

Gut zwanzig Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, vier Jahre nach der Heiligsprechung des Franz von Sales, also im Jahre 1669, schreibt ein deutscher Philosoph, Naturwissenschaftler und Wissenschaftspolitiker einen Brandbrief an seinen Staatschef:

„Leyder es gehet mit uns in Manufacturen, Commercien, Mitteln und Regierungsform mehr und mehr bergab, da dan kein Wunder, dass auch Wissenschaften und Künste zu Boden gehen, dass die besten Ingenia entweder ruinieret werden, oder sich zu anderen Potentaten begeben, die wohl wissen, was an diesem Gewinst gelegen.“

Es ist der junge Gottfried Wilhelm Leibniz der mit diesen Worten beim Großen Kurfürsten von Preußen sozusagen für eine Exzellenzinitiative wirbt. Er hat Erfolg, wenn auch erst dreißig Jahre später. Unter dem Sohn des Großen Kurfürsten, dem späteren König Friedrich I. von Preußen gründet Leibniz im Jahre 1700 die Churfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften, die heutige BBAW und schreibt in ihre Gründungs-Denkschrift:

„Solche Churfürstl. Societät müsste nicht auf bloße Curiosität oder Wissensbegierde und unfruchtbare Experimenta gerichtet seyn, oder bey der bloßen Erfindung nützlicher Dinge ohne Application und Anbringung beruhen, wie etwa zu Paris, London und Florenz geschehen, sondern müsste gleich anfangs das Werck samt der Wissenschaft auf den Nuzen richten, und auf solche Specimina dencken, davon der hohe Urheber Ehre und das gemeine Wesen ein Mehrers zu erwarten Ursach habe.

Wäre demnach der Zweck theoriam cum praxi zu vereinigen.

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Derowegen wäre anitzo dahin zu sehen, wie nicht nur Curiosa, sondern auch Utilia ins Werck zu richten. Denn reale Ministri werden unnützer Curiositäten bald überdrüßig.“

Die Akademie hat rühmlich gearbeitet, besonders unter Friedrich dem Großen, Ich nenne nur die Namen Euler und Lagrange. Aber wie das so ist: keine hundert Jahre später ist der König sehr unzufrieden, weil er meint - ich zitiere aus einer Cabinets Ordre Friedrich Wilhelms III. vom 9. April 1798:

„Die Akademie scheint mir immer zu wenig auf den öffentlichen Nutzen gerichtet. Man hat sich der Diskussion abstrakter Dinge zugewandt, und sich nicht bemüßigt, unsere Kenntnis der wirklich nützlichen Dinge auszuweiten.“

(Dass über etwa die gleiche Zeitspanne - nämlich vom Beginn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - die Pariser Académie des Sciences, die Leibniz in seiner Denkschrift gescholten hatte ob ihrer Praxisferne, sich durchaus praxisorientiert entwickelt hat, ist auch nur ein schwacher Trost. Denn - so schreibt der Historiker Winfried Schulze:

„Die Orientierung auf unmittelbar vor Augen liegende Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse kann durchaus in die Irre führen: bei ihrer Zusammenkunft einen Tag nach dem Sturm auf die Bastille diskutierten die 23 anwesenden Mitglieder der Académie des Sciences über Kornfäule, die Gradierung von Senkwaagen sowie über neue Möglichkeiten der Trinkwasserversorgung auf Schiffen. Das war sehr anwendungsnah, aber doch in einem fundamentalen Sinne weltfern.“

Weltferne ist natürlich kein Vorrecht unserer Nachbarn:

Am 26. Mai 1789, also ebenfalls im Jahr der französischen Revolution, hält Schiller seine berühmte Akademische Antrittsrede in Jena mit dem Titel:

„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“

Ich zitiere daraus:

„Endlich unsere Staaten - mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie ineinander verschlungen! Wie viel dauerhafter durch den wohlthätigen Zwang der Noth als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staates setzt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.“

Welche Fehleinschätzung!

Eine andere Passage dieser Rede an die Studenten Jenas ist es aber durchaus wert, nochmal in Erinnerung gerufen zu werden zum Thema „Wissenschaft und Gesellschaft“:

Schiller unterscheidet zwischen dem Brodgelehrten und dem philosophischen Kopf. Dem ersten ist es „einzig und allein darum zu tun, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amt fähig werden kann. Wie ganz anders verhält sich der philosophische Kopf! – Eben so sorgfältig, als der Brodgelehrte seine Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern, und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen. ... Wo der Brodgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.“)

In diesen Kontext passt die berühmte Schillersche Xenie über die Wissenschaft (1796 gemeinsam mit Goethe verfasst):

Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.

Und das führt uns unmittelbar zurück zu unserem unzufriedenen preußischen König, der es mehr mit der tüchtigen Kuh hat als mit der himmlischen Göttin. Im Jahre 1802 entsteht im Kabinett Friedrich Wilhelms ein Entwurf zur Reorganisation der Akademien in Europa:

„Mitglied der Akademie kann nur derjenige seyn, der sich in einem bestimmten Fache der physischen und moralischen Wissenschaften, so wie sie gegenwärtig vorhanden sind, ausgezeichnet hat. Ausgeschlossen sind alle Redner und Dichter, weil die Gesellschaft, d.h. der Staat sie entbehren kann. Ausgeschlossen sind ferner alle Metaphysiker, d.h. alle Philosophen, alle Theologen und alle Juristen. Ausgeschlossen sind endlich alle Politiker, weil die Politik keine Wissenschaft genannt werden kann.“

Spätestens jetzt käme ich in argumentative Probleme, wäre diese königliche Meinung das Ende der Geschichte. Ich könnte allenfalls mit einem Satz des Franz von Sales resignieren:

„Eine Dummheit hört nicht auf, eine zu sein, weil sie gedruckt ist.“

Aber da sind ja noch die Brüder Alexander und Wilhelm Humboldt, der eine Forscher, der andere Ministerialer – um die heutige Terminologie zu benutzen. Der eine kämpft für die Akademie, der andere betreibt die Gründung einer Universität.

Alexander entwirft neue Statuten für die Akademie. Kernpunkte seines Entwurfs:

1. Der vornehmste Zweck der Akademie soll auf die Erweiterung der Wissenschaften gerichtet sein 2. Die eigentliche Fortpflanzung der Wissenschaften durch Unterricht ist nicht die Sache der

Akademie, sondern gehört für die Universitäten
3. Auch mit der unmittelbaren Anwendung der Wissenschaften auf irgendein bürgerliches Geschäft
und auf eine bestimmte Nützlichkeit befassen sich die Akademiker, als solche, nicht.

Der Entwurf wird vom König - wen wundert ?s - nicht bestätigt.

Der große Bruder Wilhelm macht es diplomatischer. Er kennt beide Seiten. Seine Denkschrift plädiert für eine Kooperation zwischen Universität und Akademie.

Er hat Erfolg. Im Oktober 1810 öffnet die neue Berliner Universität den Studienbetrieb mit den Fakultäten Jura, Medizin, Philosophie und Theologie. Die Naturwissenschaften sind Teil der philosophischen Fakultät. Die Akademie wird per Cabinetsordre zur Zusammenarbeit mit der Universität verpflichtet. Das war damals einfach, wenn man an die eingangs beschriebenen heutigen Mühen denkt, über föderale Zuständigkeitsgrenzen hinweg Bundesmittel in Universitäten zu bekommen. Aber war es auch nachhaltig wirksam?

Als Werner von Siemens im Jahr 1874 in die Preußische Akademie aufgenommen wird, sagt er in seiner Antrittsrede:

Der deutsche Gelehrte fragt nicht, ob das Problem, dessen Lösung er unternehmen, ob die Untersuchung, der er sich hingeben will, ihm selbst oder anderen unmittelbaren Nutzen bringen wird. Es ist die reine, selbstlose Liebe zur Wissenschaft, welche ihm seine Aufgaben vorzeichnet, es ist der Wissensdrang, welcher ihn anspornt, ihrer Durchführung seine ganze Geisteskraft zu widmen. Als Lohn genügt ihm das Bewußtsein, den einzig wahrhaften Schatz der Menschheit, ihren Wissensschatz, vermehrt zu haben, und sein Ehrgeiz ist befriedigt, wenn sein Name mit der Auffindung einer neuen Wahrheit, einer neuen wissenschaftlichen Tatsache oder Folgerung dauernd verknüpft ist.

Die Akademie ist mit meiner Wahl von dem System abgewichen, welches so Großes erwirkte...

Und tatsächlich antwortet ihm der Präsident Emil du Bois-Reymond:

Die praktische Anwendung der Wissenschaft, ihre Dienstbarmachung für technische Zwecke, in welcher du, mein teurer Siemens, so Großes geleistet, liegt außerhalb des Kreises unserer Beschäftigungen...

Da ist die Wissenschaft also wieder in ihrem Turm.

Aber Siemens wäre nicht Siemens, wenn er es dabei bewenden ließe. Er will den Staat in die Verantwortung für die wissenschaftliche Unterstützung industrieller Entwicklung einbinden, und es gelingt ihm. In einer nachgerade klassischen Kooperation zwischen Industrie und Hochschule gründet er im Jahr 1888 gemeinsam mit seinem Freund Hermann von Helmholtz, dem Doyen der deutschen Wissenschaft, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin. Es folgen die als wissenschaftliche und wirtschaftliche Blütezeit zu betrachtenden wilhelminischen Jahre.

Max Planck studiert trotz der Warnung seines Lehrers Philipp von Jolly „in der Physik sei alles ausgeforscht“ ebendieses Fach und stößt im Jahr 1900 das Tor zur Quantenphysik auf - mit dramatischen Folgen für die Zukunft der Welt.

Albert Einstein wird 1913 hauptamtlich besoldetes Mitglied der Preußischen Akademie. Seine „Spezielle Relativitätstheorie“ steht seit 1905, die „Allgemeine“ wird in Berlin entwickelt. Er darf an der Berliner Universität lehren, muss aber nicht. Wie sehr die Forschung dieser beiden Wissenschaftler die Gesellschaft verändert, ist damals noch nicht abzusehen, heute aber kaum zu überschätzen.

1911 wird die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gegründet. Kaiser Wilhelm II. ist nicht eigentlich ein Visionär auf dem Gebiet technisch-wissenschaftlicher Innovation

(von ihm stammt der Satz: „In fünf Jahren wird keiner mehr vom Auto reden, ich setze aufs Pferd.“) Aber er fungiert als Schirmherr.

Bundespräsident Gustav Heinemann beschreibt das auf einer Jahresversammlung der Max-Planck- Gesellschaft 1972 im Rückblick so:

„Die KWG sollte sicherstellen, dass Deutschland bei der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Neuerungen nicht in die Hinterhand geriet und damit an wirtschaftlicher Macht einbüßte. Gewiss, auch zweckfreie Forschung sollte gefördert werden. Aber die Verbindung zwischen naturwissenschaftlicher Forschung, Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, Schlagkraft der Armee und nationalem Ansehen wurde als eine unbezweifelbare Einheit betrachtet. Wir haben inzwischen gelernt, dass solche Ausrichtung der Wissenschaft auf Abwege führt.“

Deshalb wird die Max-Planck-Gesellschaft als Rechtsnachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg strikt auf Grundlagenforschung beschränkt, deshalb (verkürzt gesagt, nämlich als Folge dieser Beschränkung) wird 1949 die anwendungsorientierte Fraunhofer-Gesellschaft gegründet, deswegen werden in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Großforschungszentren eingerichtet, die sich 1995 in der Helmholtz-Gemeinschaft zusammenschließen. Die Grundlage des erfolgreichen, arbeitsteiligen Wissenschaftssystems der Bundesrepublik ist gelegt. In dieses fügt sich nach der Wiedervereinigung noch die Leibniz-Gemeinschaft ein. Alle diese sogenannten „außeruniversitären Forschungseinrichtungen“ arbeiten mehr oder weniger eng mit den Universitäten zusammen, alle sind international vernetzt, wie das auch die Universitäten ihrerseits sind.

Also doch „Heile Welt“? Ist der „Elfenbeinturm“ endlich verlassen? Oder sind es nur mehrere geworden, deren Bewohner sich zwar wechselseitig besuchen, aber die Grenzen der Elfenbeintürme dabei nicht eigentlich überschreiten?

Meine Antwort ist zweifach:

1. Die Differenzierung und Arbeitsteiligkeit des deutschen Forschungssystems ist die richtige Antwort auf die zunehmende Komplexität der modernen globalisierten Welt und ihrer Herausforderungen, denen nur mit einer klugen Balance zwischen grundlagenorientierter, anwendungsorientierter und programmgesteuerter Forschung begegnet werden kann.

Aber: das Ausbildungssystem der Universitäten und Hochschulen, in denen nicht mehr wie zu Humboldts Zeiten weniger als fünf Prozent eines Jahrgangs, sondern fast die Hälfte ihre Ausbildung suchen, muss sich neu ausrichten. Wir müssen akzeptieren, dass wir nur die wenigsten unserer Studierenden für die Forschung ausbilden, dass wir aber verantwortlich dafür sind, dass alle zu verantwortlichen, problembewussten Bürgern dieser Welt ausgebildet werden, die den Stellenwert von Wissenschaft aus eigener Erfahrung einschätzen und bewerten können. Diese Ausbildung kann und darf nicht mehr fachlich, national oder kulturell einäugig bleiben.

Die Universität des 21. Jahrhunderts als Institution für die Ausbildung der Jugend, als Stätte von Forschung und Lehre wird nur überleben, wenn sie sich bewusst den Fragen der Zukunft zuwendet, wenn sie der praktischen Problemlösungskompetenz als Ausbildungsziel Würde zuspricht.

Deswegen muss das Curriculum des 21. Jahrhunderts problemorientiert statt fachspezifisch sein, ohne dabei auf Tiefe in wenigstens einer Disziplin zu verzichten, es muss die Eigenheiten und Unterschiede der wesentlichen Weltkulturen und Weltreligionen lehren, ohne dabei auf einen klaren Standpunkt zu verzichten, es muss die transdisziplinäre Interdependenz der großen Herausforderungen (Grand Challenges) der Moderne deutlich machen, ohne dabei in interdisziplinäre Beliebigkeit zu geraten.

Das klingt nach einer utopischen Vision - und wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen, sagt Helmut Schmidt.

Ich halte dagegen: wer keine Visionen mehr hat, braucht auch keinen Arzt mehr.

Und deswegen gratuliere ich dem Haus Overbach und allen, die dazu gehören, aus vollem Herzen zur Eröffnung des Franz von Sales Hofs und auch zum damit möglichen Start des Franz von Sales Kollegs. Denn Sie verfolgen für Ihre Schüler genau die beschriebene Vision:

Vorbereitung aufs Leben unter den Überschriften Ethik in Religion und Wissenschaft, Verantwortungsbewusstsein, Problembewusstsein und Allgemeinbildung.

Ich wünsche dem Haus Overbach und dem Franz von Sales Hof alles Gute für eine glänzende Zukunft!

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